(Dieser Essay wurde mir von einer Studentin zugesendet, die sich von meinen Blog-Texten sehr angesprochen fühlte.)
Ein Artikel dieses Blogs mit dem Untertitel “Kind, was bist du eigentlich?”, in dem es um die Selbstdefinition über bestimmte Begriffe für Gender und Sexualität geht, hat mich besonders angesprochen, weil ich mich selbst schon einen Großteil meines Lebens darüber ärgere, mich nur unzureichend definieren zu können.
Sich zu “labeln” hat viele Vorteile. So zum Beispiel, dass man das Gefühl hat, einer existentiellen Unsicherheit zu entkommen, die dem Menschen vermutlich biologisch innewohnt. Witzigerweise wird meist nur in Bezug auf Gender- und Sexualitätsfragen von “Labels” gesprochen, obwohl die reine Benennung und Einordnung von Personen in Kategorien auch außerhalb erfolgt. Neulich habe ich zum Beispiel einen Button mit der Asexuellen-Flagge geschenkt bekommen und mich darüber gefreut, aber im gleichen Moment habe ich gedacht: Komisch, dass mir das so viel bedeutet, obwohl ich mir ja auch keinen Button anpinnen würde, auf dem “Mag-die-Farbe-Rot” oder “Friert-erst-ab-5°C” steht, um andere über meine Selbstdefinition zu unterrichten. Im Endeffekt läuft alles darauf hinaus, dass sich zu labeln immer dann wichtig ist, wenn der Teil der Eigendefiniton für zwischenmenschliche Fragen ausschlaggebend ist, also zum Beispiel für Liebes-/Sexualkontakte und/oder Freundschaftsbeziehungen.
Und für was eigentlich genau? Zwei Aspekte, die schon in dem Artikel auftauchen, sind einerseits der Wunsch nach Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe und andererseits die Möglichkeit, Drittpersonen außerhalb der Gruppe schnell und kompakt über die Definition zu informieren. Zwei weitere Punkte, die ich dabei für besonders wichtig halte und wegen denen bestimmte Labels aber auch zum Problem werden können, sind einerseits die Grenzziehung in der sozialen Interaktion – sei sie nun physischen oder psychischen Charakters – und andererseits die ausdrückliche Zielsetzung, die mit Wünschen und Bedürfnissen verbunden ist. Labelt man sich zum Beispiel als “lesbisch”, verstehen die meisten Leute, dass man keine Liebes- und/oder Sexualkontakte mit Männern möchte (Grenze) und dass man Liebes- und/oder Sexualkontakte mit Frauen anstrebt (Ziel/Wunsch). Demnach wird auch ein “versehentliches” Überschreiten der Grenzen erschwert, wenn auch leider nicht unmöglich.
Genau hierin liegt aber auch die Gefahr zur Missidentifikation oder nur partiellen Identifikation. Aus dem selben Grund, aus dem Menschen nämlich die Grenzen und Wünsche in Zusammenhang mit einem Label akzeptieren, scheinen diese für den Bezeichneten auch zu einer unausgesprochenen Pflicht zu werden. Eventuell fühlt sich zum Beispiel eine Trans-Frau abgelehnt, wenn einige Lesben den Sexualkontakt mit ihr nicht wollen, da beide unterschiedliche Ansichten haben, auf welche Weise Gender auf die Grenzziehung beim Label “lesbisch” Einfluss hat. Beide fühlen sich berechtigterweise in einer Zwangslage: Die Trans-Frau hat das Gefühl, dass ein Signal gegeben wurde, dass Wunscherfüllung mit dieser anderen Person möglich ist und wird enttäuscht. Die Lesbe hat unter Umständen das Gefühl, sich für ihre Grenzen rechtfertigen zu müssen, was erschöpfend sein kann. Zwar versuchen Begriffe wie “pansexuell” solche Verständnisprobleme aus der Welt zu schaffen, aber gerade diese Verallgemeinerung führt manchmal dazu, dass Pansexuellen wiederum vorgeworfen wird, überhaupt nicht wählerisch zu sein und im schlimmsten Fall daraus falsche Schlüsse über einen hypersexuellen Lebensstil gezogen werden.
Ich glaube – auch wenn ich bisher nur theoretische Erfahrungen gesammelt habe – dass Ähnliches für Labels innerhalb der BDSM-Szene gilt, nur ist hier zumindest gewährleistet, dass der finale physische Kontakt nur in einem geregelten Umfeld und mit Sicherheitsvorkehrungen wie einem Safeword ausgeführt wird. Wie ich es verstanden habe, muss sich keiner rechtfertigen, wenn er während eines Plays das Safeword fallen lässt und somit seine Grenzen markiert. (Anmerkung von Lady Sara: In einem Play mit beiderseitig vollem Einlassen in tiefgehende Emotionalität und körperliche Lust-Intensität ist zu beachten, dass das Benutzen des Safewords durch die eine Person häufig einen Absturz für die andere Person bedeutet. Ich halte es daher für wichtig, vorher entsprechend differenzierte Absprachen hinsichtlich der Einsatzbereiche von Safewords zu treffen und diese nicht zu leichtfertig zu gebrauchen. Dies kann durchaus als "Rechtfertigung" verstanden werden: Damit ein aktives Bespielen nicht nur Fantasy Design im professionellen Rahmen bzw. ein reiner Freundschaftsdienst im privaten Setting ist, in welchem ich meine eigene Befriedigung bewußt hintenan stelle, möchte und muss ich mich fest darauf verlassen können, dass ausschließlich echte medizinische oder psychologische Probleme einen Abbruch seitens des/der Passiven in Form eines Safewords rechtfertigen, z.B. Kreislaufprobleme oder erhöhte Flashback-Risiken.)
Nun zur Asexualität und den Möglichkeiten, die BDSM bieten kann. Die Asexualität wird meistens folgendermaßen definiert: “Asexualität bedeutet, dass kein Verlangen nach sexueller Interaktion vorhanden ist und andere Menschen nicht oder nur bedingt als sexuell anziehend empfunden werden.” Ich habe schon einige Asexuelle online und offline kennengelernt und tatsächlich gibt es viele, die gar kein Verlangen empfinden, also auch nicht masturbieren. Andere können sogar normalen Vanilla-Sex haben, empfinden aber einfach nicht das Bedürfnis danach, sondern behandeln die Aktion wie einen durchschnittlichen Blockbuster, den sie ganz zufällig beim Durchzappen mit der Fernbedienung gefunden haben und der “ja nun eh schon gerade mal läuft”.
Da mancher Asexualität jedoch mit einer absoluten Abwesenheit von sexuellem Verlangen gleichsetzt, komme ich mir immer ein bisschen dämlich vor, wenn ich mich so nenne. In meinem Fall besteht sexuelles Verlangen durchaus, jedoch niemals im Kontext des üblichen “Geschlechtsverkehrs”, also im Zusammenhang mit penetrativen Sexualpraktiken. Für mich findet der Orgasmus vor allem im Kopf statt (wobei ich natürlich trotzdem physische Reaktionen auf Befriedigung zeige) was für mich voraussetzt, dass ein bestimmtes Machtverhältnis ausgehandelt ist, bei dem meinerseits eine gewisse Hingabe gegenüber einem potentiellen Sexualpartner besteht. Nachdem ich mich mit 18 vor einem Kernteil meiner Familie geoutet hatte, also nicht nur die Lesben- sondern auch die Asexuellenbombe habe platzen lassen, wurde ich bestenfalls mit Bestürzung und Sorge um meine Psyche und schlimmstenfalls mit Ungläubigkeit konfrontiert. Tatsächlich hat kein Schimpfwort, kein Blick mich je so tief getroffen wie der Moment, in dem ich meiner Mutter erklärte, warum es für mich schwer werden würde, auf dem normalen Weg Enkelkinder zu produzieren und sie schlicht mit: “Tu doch nicht so!” antwortete. Seitdem hatte ich immer das Gefühl, meine Asexualität und auch meine Homosexualität (es waren immer mal wieder Phrasen gefallen, wie “Aber als du zwölf warst, warst du doch in diesen oder jenen männlichen Schauspieler verknallt”) nachweisen zu müssen. Dementsprechend schämte ich mich dann auch, eindeutig sexuelle Fantasien beim Masturbieren zu haben, da ich mir wie ein Heuchler oder Lügner vorkam gegenüber allen, vor denen ich mich geoutet hatte. An manchen Tagen habe ich mich sogar selbst belogen und das waren meiner Meinung nach die Schlimmsten.
Wenn man also mit meiner Facette von Asexualität lebt, wie kann man dann jemals überhaupt eine körperliche Beziehung mit anderen Menschen eingehen? Wer würde mit mir in einer halbplatonischen Beziehung leben oder sich zum Sex treffen, dann aber auf einen Großteil von dem verzichten, was für die Person Sex bedeutet? Ich wollte nie irgendjemandem das Gefühl geben, auf etwas verzichten zu müssen und so habe ich niemals irgendeine Version von körperlicher Nähe eingeleitet und andere Menschen einfach nur von Weitem verehrt.
Und dann erfuhr ich vom BDSM. Als ich noch laienhaft informiert war, beeindruckte es mich wahnsinnig, dass manche Leute bereit waren, Schmerzen zu akzeptieren, um eine Befriedigung daraus zu erlangen, sich dominieren zu lassen. (Anmerkung von Lady Sara: Die Autorin bezieht sich hier nicht auf Painplay als Selbstzweck, redet also nicht von S/M, sondern von bestimmten Formen des D/S.) Das Zusammenspiel von körperlicher Nähe und Hingabe, die aber nur in einem abgeschlossenen Raum (zeitlich und lokal) als Session stattfindet, ist ideal. Nachdem ich nun die Ausführungen von Lady Sara zu Praktiken wie “Sensual Play” und verschiedenen Disziplinierungsmöglichkeiten gelesen habe, glaube ich, dass BDSM eine Art von Sexualität bietet, die vielleicht nicht für jeden Asexuellen gleichermaßen hilfreich sein kann, jedoch ein extremes Potential für eine “andere Art” von zwischenmenschlicher Nähe bietet, die ersetzen kann, was nicht-asexuellen Menschen der typische “Geschlechtsverkehr” bringt.